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Predigt über Prediger 7,15-18 am 3. Sonntag vor der Passionszeit Septuagesimae
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Predigt über Prediger 7,15-18 am 3. Sonntag vor der Passionszeit Septuagesimae

Predigt vom 17.02.19 (Pfarrer i. R. Christian Wolff) Ort: Martin-Luther-Kirche

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.
Amen.
Als der Schriftsteller Bertold Brecht einmal gefragt wurde, was für ihn das wichtigste Buch der Weltliteratur sei, antwortete er: Sie werden lachen, die Bibel!
Dass nicht nur ein überzeugter Atheist wie Bertold Brecht, sondern viele Dichter, Komponisten, Maler sich mit biblischen Gedanken und Geschichten auseinandersetzen, hat vermutlich eine Ursache: In der Bibel bildet sich das ganze Leben des Menschen in all seiner Widersprüchlichkeit ab. Nichts ist der Bibel fremd: weder das Glück der Liebe noch die Schmach des Seitensprungs, weder die Mahnung zur Gerechtigkeit noch das Elend der Korruption, weder Eifersucht noch Hingabe, weder Verzweiflung noch Hoffnung. Alles, was sich auf dieser Erde zwischen Geburt und Sterben abspielt, wird in der Bibel reflektiert - nicht vom Hochsitz moralischer Selbstgewissheit aus, sondern vor Gott, d.h.im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit. Vor allem im ersten Teil der Bibel, dem sog. Alten Testament, kommt das zur Sprache, was Menschen im Innersten bewegt: Angst und Vernichtungsphantasien, Euphorie und Lebensmüdigkeit, Freiheitsdrang und Sehnsucht nach alten Sicherheiten. Auf diesem Hintergrund ist es so verhängnisvoll, dass in der Christentumsgeschichte immer wieder kolportiert wurde, dass das Alte durch das Neue Testament abgelöst, überholt sei. Das ist völliger Unsinn – genauso wie das unausrottbare Vorurteil, im Alten Testament sei ein unbarmherziger Rachegott am Werke, während im Neuen Testament der gnädige Gott sichtbar würde. Nein: der Gott des Alten Testamentes ist derselbe wie der Vater Jesu Christi.
Die über Jahrhunderte währende Abwertung des Alten Testaments war nicht nur Teil des kirchlichen Antisemitismus, sie hatte auch zur Folge, dass relativ selten Predigttexte aus dem ersten Teil unserer Bibel für die Gottesdienste vorgesehen sind. Dieser Mangel wurde nun mit der Festlegung der neuen Predigttexte behoben. An diesem Sonntag profitieren wir davon. Denn wir hören einen Text aus dem Buch Prediger, einer Schrift, die zwar dem König Salomo zugeordnet wird, die aber viel später, nämlich im 2. Jahrhundert vor Christi Geburt, entstanden ist und zur sog. Weisheitsliteratur gehört. Zu dieser Gattung zählen auch die Psalmen, das Hohelied der Liebe und die Sprüche Salomos. In der Weisheitsliteratur verdichten sich tiefe Einsichten ins Leben von uns Menschen zu Spruchweisheiten. Das werden wir sofort merken – so auch in den Versen aus dem 7. Kapitel des Predigerbuches:
Alles habe ich gesehen in meinen nichtigen Tagen:

es gibt Gerechte,
die zugrunde gehen trotz ihrer Gerechtigkeit,
und es gibt Frevler,
die lange leben trotz ihrer Bosheit,
Sei nicht allzu gerecht,
und gehabe dich nicht allzu weise!
Warum willst du dich zugrunde richten?
Frevle nicht allzu sehr,
und sei kein Tor!
Warum, willst du vorzeitig sterben?
Gut ist es, du hältst das eine fest
und lässt auch das andre der Hand nicht entgleiten.
Ja, wer Gott fürchtet,
bringt alles beide zuwege.
Prediger 7,15-18 – Übersetzung nach Hans Walter Wolff

Wenn ich gefragt werde, was den christlichen Glauben, besser: den biblischen Glauben ausmacht, dann verweise ich gerne auf das so realistische, nüchterne Menschenbild, das in der Bibel entworfen wird. Gerade im ersten Teil unserer Bibel ist weniger von dem Menschen die Rede, wie er sein sollte, als vielmehr von dem, wie er ist: die menschliche Existenz in ihrer ganzen Verworfenheit und Widersprüchlichkeit – beginnend mit Adam und Eva und ihrem Scheitern an der Frage von Gut und Böse, der tödlich verlaufende Konflikt zwischen Kain und Abel, die Sintflutgeschichte und der Turmbau zu Babel bis zum erbitterten Bruderzwist zwischen Esau und Jakob. Das Leben – aufgerieben zwischen gut und böse – erweist sich als nichtig und eitel und endet mit dem Tod. Einige Verse nach dem Predigttext verweist der Autor dieser Schrift auf eine Grunderfahrung:
Denn es ist kein Mensch so gerecht auf Erden,
dass er nur Gutes tue und nicht sündige.
Prediger 7,20
Ja, jedes Menschenleben, auch das der Heiligen, einer Mutter Theresa, eines Dietrich Bonhoeffer, eines Mahatma Gandhi, eines Franz von Assisi, einer Hildegard von Bingen ist voll von Versagen, von Schuld, von Banalitäten. Darum sollten wir beachten: Die Bibel ist kein Heldenepos. Alle Gestalten haben auch ihre dunklen Seiten: Moses, der einen ägyptischen Aufseher erschlägt; David, der sich in einer schmierigen Korruptionsaffäre verfängt; Petrus, der sich schnöde von Jesus distanziert, um seine Haut zu retten. Letztlich können alle biblischen Figuren von einem Leben mit „nichtigen Tagen“ ein Lied singen. Doch damit wird das Besondere, das Großartige, das Vorbildhafte an diesen Menschen nicht entwertet – im Gegenteil. Wer offen von seinem Versagen, Scheitern und seiner Schuld sprechen und sich dazu bekennen kann, gewinnt an Glaubwürdigkeit. Vor allem aber zeugt dies von einem nüchternen Blick auf das eigene Leben und die eigenen, begrenzten Möglichkeiten. So ist auch die Bemerkung von den „nichtigen Tagen“ zu verstehen, mit der der Predigttext beginnt. Das Wort „nichtig“ oder „eitel“ entspringt nicht nihilistischem Gedankengut: Nichts hat Sinn; alles ist letztlich vergeblich; es ist eigentlich egal, wie du lebst.
Nein: Nichtig ist hier im Sinn von Stückwerk zu verstehen. All unser Bemühen ist nur ein kleines, winziges, letztlich unbedeutendes Mosaiksteinchen in der Menschheitsgeschichte – mal in den Farben grell, mal blass. Das Besondere des Menschen ergibt sich nicht aus dem, was er leistet, ob er gerecht oder ungerecht handelt. Das Besondere ergibt sich aus der Überzeugung, dass jeder Mensch von Gott ins Leben gerufen wurde und zwischen Geburt und Sterben die Möglichkeit hat, den Maßstäben des Lebens gerecht zu werden.
Diese Einsicht führt dazu, dass im Predigttext eine uns sehr vertraute Tatsache zur Sprache gebracht wird:es gibt Gerechte, die zugrunde gehen trotz ihrer Gerechtigkeit, und es gibt Frevler, die lange leben trotz ihrer Bosheit,
Natürlich fragen wir uns oft: Wieso muss eine so herausragende Persönlichkeit wie ein Martin Luther King mit 39 Jahren sterben, während wir heute für Mehrfachmörder Pflegeheime bauen müssen, weil sie so lange leben? Wieso stirbt eine vierfache Mutter mit 42 Jahren an Krebs, während ein Sexualverbrecher nach 10 Jahren Haft entlassen wird und gesund weiterleben kann? Jeder, der sich mit diesen und ähnlichen Fragen auseinandersetzt, weiß, dass es darauf keine schlüssigen Antworten gibt – obwohl wir diese krampfhaft suchen. Denn die Tatsache, dass der Gerechte leiden muss, dass jemand, der ein anständiges Leben führt, einer tödlichen Krankheit ausgeliefert ist, nagt an unserer Glaubensgewissheit. Ist das noch gerecht? Müsste es nicht so sein, wie wir es auch in Bibel vorfinden: dass nämlich der Gerechte den Schutz Gottes erfährt und ein erfülltes Leben führen kann, während der Gottlose dem eigenen Verderben ausgeliefert ist? Aber dieser Logik kann und will der Predigttext nicht folgen, denn die Erfahrung spricht dagegen.
Der Weisheitslehrer bietet dafür einen anderen Ausweg an:
Sei nicht allzu gerecht,
und gehabe dich nicht allzu weise!
Warum willst du dich zugrunde richten?
Frevle nicht allzu sehr,
und sei kein Tor!
Warum, willst du vorzeitig sterben?
Diese Sicht mag manchen überraschen. Denn solchen Pragmatismus verbinden wir nicht mit dem Glauben, mit der Suche nach der Wahrheit. Da geht es eher um richtig und falsch. Es kann unter uns Menschen doch nicht gerecht genug zugehen! Gerade die Kirche muss doch alles daran setzen, dass die Maßstäbe des Glaubens im Alltag Anwendung finden, dass im öffentlichen Diskurs die Wahrheitsfrage gestellt wird. Wieso wird hier aber so kompromisslerischer Mittelweg vorgeschlagen? Wieso wird derjenige, der nichts Gutes im Schilde führt, lediglich aufgefordert, es mit dem Frevel nicht zu toll zu treiben? Wieso soll der Kompromiss die Wahrheit ersetzen? Der Autor des Predigerbuches ist der Überzeugung, dass beides - der Versuch, den Maßstäben eines moralisch gebundenen Lebens gerecht zu werden, und die Versuchung, Fünfe gerade sein zu lassen – in Maßen angewandt dazu führt, sich vor schnellem Scheitern, auch vor dem Tod zu bewahren.
Nun kann ich mir vorstellen, dass viele unter uns einer solchen Lebensphilosophie eine Menge Positives abgewinnen können – ganz im Sinne Goethes: Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten.
Ist es nicht genau das, was wir unseren Kindern empfehlen, wenn diese mit jugendlichem Rigorismus ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit entwickeln bzw. gesetzte Grenzen überschreiten, um sich von den Regeln der Erwachsenenwelt abzusetzen? Ich kann mich jedenfalls noch sehr gut an solche Ratschläge meiner Eltern erinnern, gegen die ich damals nicht nur innerlich Sturm gelaufen bin – vor allem, wenn sie meine Empörung über irgendeine Ungerechtigkeit in der Schule in eine Abwägung unterschiedlicher Positionen lenken wollten. Niemals aber wollte ich Kompromisse in Sachen Gerechtigkeit machen. So lange auch nur ein Mensch hungert, müssen wir doch helfen. So lange auch nur noch eine Waffe produziert wird, müssen wir doch dagegen Sturm laufen.
Doch denken wir nicht gerade jetzt wieder sehr „mittig“, wenn Schüler/innen demonstrativ den Schulunterricht verlassen, um am „Friday for future“ teilzunehmen und weltweit entschlossene, überzeugende Schritte der Politik für den Klimaschutz einzuklagen – und Politiker den Ratschlag geben, sie sollten doch bitteschön in ihrer Freizeit auf die Straße gehen? Aber lässt sich so der Klimawandel aufhalten? Ja, wir können jetzt alle Probleme dieser Welt durchgehen. Immer stehen wir vor der Frage: Wie weit treiben wir es mit unseren moralischen Grundsätzen, mit den ethischen Maßstäben – auch denen des Glaubens?
Der Weisheitslehrer plädiert für Nüchternheit: Niemand wird es schaffen, widerspruchsfrei zu leben – so seine Überzeugung. Mehr noch: Er warnt vor ethischem Rigorismus. Denn dieser birgt die Gefahr in sich, dass wir das Gegenteil von dem erreichen, was wir wollen. Man denke nur an die strenge Sexualmoral der katholischen Kirche, die ihr nun schwer auf die Füße fällt. Es ist das eine, Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich zu verwerfen. Doch der konkrete Fall bedarf dann ganz anderer Lösungen. Da stoßen wir mit der Durchsetzung von Prinzipien an unsere Grenzen. Ja, wer keinen Pragmatismus an den Tag legt, der richtet sich zugrunde – eine Erfahrung, die sich hundertfach in der Geschichte belegen lässt. Damit ist nicht gesagt, dass die ethischen Maßstäbe überflüssig sind. Der Weisheitslehrer plädiert ja nicht für Gleichgültigkeit oder eine Egalhaltung. Natürlich ist es wichtig, sich den Kopf zu zerbrechen über einen angemessenen Lebenswandel. Natürlich werden die 10 Gebote nicht der
Beliebigkeit preisgegeben. Aber – das Leben ist nicht nur widersprüchlich, es ist auch vielfältig, bunt und erfordert das, was mindestens so wichtig ist, wie moralischer Rigorismus: Verantwortung, also das Abwägen unterschiedlicher Möglichkeiten. Man denke nur an die bekannte Episode aus dem Leben Jesu. Als seine Jünger am Sabbat Ähren ausrissen, um daraus für hungernde Menschen Brot herzustellen, wird Jesus von den religiösen Richtigkeitsfanatikern zur Rede gestellt: Diese Arbeit ist am Sabbat nicht erlaubt. Jesus antwortet:
Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Markus 2,23ff
Er stellt dem religiösen Richtigkeitswahn der Fundamentalisten den Maßstab gegenüber, der uns vor Rigorismus bewahren soll: die Liebe, die Rücksichtnahme. Auf diesem Hintergrund ist durchaus nachvollziehbar, was der Weisheitslehrer im Predigttext
ausführt:
Gut ist es, du hältst das eine fest
und lässt auch das andre der Hand nicht entgleiten.
Ja, wer Gott fürchtet,
bringt alles beide zuwege.
Wir sollen schon die Gerechtigkeit als Maßstab des Lebens ernst nehmen. Aber gleichzeitig ist unstrittig: Ohne Kompromisse geht es nicht. Als Maßstab dafür erinnert der Weisheitslehrer an die Gottesfurcht:
Die Furcht des HERRN ist der Anfang der Erkenntnis.
Sprüche 1,7
heißt es in der Weisheitsliteratur. Vor aller ethischen Orientierung, aber auch vor allen Kompromissen, vor aller nüchternen Einschätzung des Lebens kommt die Furcht, die Ehrfurcht vor Gott. Ihm verdanken wir alles Leben. Vor ihm haben wir unser Leben zu verantworten. Und Gott allein ist gut! Als Jesus von einem jungen Mann mit „Guter Meister“ angesprochen wird, antwortet Jesus:
Was nennst du mich gut? Niemand ist gut, als Gott allein. Markus 10,18
Die Gottesfurcht führt zu der Erkenntnis, dass wir Menschen nur annäherungsweise, nur bruchstückhaft dem gerecht werden können, was Gott will. Wir aber sind niemals Gott. Wir sind sehr beschränkt in unseren Möglichkeiten. Aber: Gott schenkt uns Möglichkeiten. Darum ist der Weisheitslehrer der Überzeugung, dass die Ehrfurcht vor Gott uns einen gesunden, überzeugenden Pragmatismus ermöglicht, der uns vor einem bewahrt: vor moralischer Überheblichkeit, der wir niemals gerecht werden können. In diesem Sinne können wir beides: der Gerechtigkeit dienen und dabei die Grenzen unserer Möglichkeiten anerkennen. Sicher: Das ist eine Gratwanderung. Wer Gott fürchtet, der schätzt seine eigenen Möglichkeiten sehr realistisch ein und relativiert diese. Denn er erkennt sich vor Gott als fehlbarer, unvollkommener Mensch. Aber dadurch werden die Gebote Gottes, die Maßstäbe des Lebens nicht der Beliebigkeit ausgeliefert. Dass getötet wird, dass gelogen wird, dass Gewalt ausgeübt und Krieg geführt wird (und ich daran beteiligt bin) – das bedeutet nicht, dass deswegen die 10 Gebote, die Nächsten- und Feindesliebe Jesu, die Gewaltlosigkeit, die Gerechtigkeit keine Bedeutung mehr haben. Diese ethischen Grundwerte bleiben uneingeschränkt gültig. Aber wir Menschen müssen uns darüber im Klaren sein: Wir sind nicht in der Lage, diesen Anforderungen hundertprozentig gerecht zu werden. Das ist eine Erkenntnis, die wir der Ehrfurcht vor Gott verdanken. Sie macht uns handlungsfähig und kompromissbereit. Einen Kompromiss schließen, bedeutet aber nicht, dass wir damit grundlegende ethische Maßstäbe verraten, ad acta legen. Nein, wir sehen nur ein, dass wir Menschen Kompromisse brauchen, um nicht andere durch unseren Rigorismus zu drangsalieren und um uns nicht selbst die Rolle Gottes anzumaßen. Denn dadurch gefährden wir alles. Durch Kompromisse aber bewahren wir uns vor Gleichgültigkeit und davor, die ethischen Maßstäbe des Glaubens zu entwerten.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Christian Wolff, Pfarrer i.R.

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